Zur
Funktion der Jugendgerichtshilfe,
der Staatsanwaltschaft und der Verteidiger
in der Hauptverhandlung
Die Jugendgerichtshilfe (JGH) bereitet die Hauptverhandlung vor, indem sie die Lebensumstände der Angeklagten ermittelt, und unterbreitet in der Sitzung einen ihr erzieherisch sinnvoll erscheinenden Vorschlag, wie auf die Straftat zu reagieren sei. Außerdem überwacht sie die Erfüllung der richterlichen Anordnungen. Mit den Neuköllner Vertretern der JGH habe ich keine Verständigungsprobleme. Ich erhalte stets sorgsam erarbeitete Berichte und fundierte Vorschläge bezüglich der denkbaren Maßnahmen. Bei JGH-Vertre-tern, die für Mitangeklagte auftreten, die in einem anderen Stadtteil wohnen, ist dies zuweilen anders. Wenn ich etwa aufgrund der Körperverletzung einer jungen Frau, die sich dem Willen ihres Exfreundes nicht beugen wollte, weil sie lieber in die Schule ging, statt den Vormittag mit ihm zu verbringen, gedanklich bereits kurz vor der Verhängung eines Dauerarrestes für den Täter stehe, schlägt man mir vor, dem „jungen Mann" doch noch eine Chance zu geben und das Verfahren einzustellen. Schließlich liege die Tat ja eine Weile zurück. Ein Blick in das Erziehungsregister des Angeklagten lässt mich schaudern, denn insgesamt wurden zuvor bereits vier Verfahren eingestellt. Auch ist festzustellen, dass die Jugendgerichtshilfen einiger Regionen manchmal fast nicht mehr existent sind. Es erscheint gelegentlich schlicht niemand mehr zur Gerichtsverhandlung oder es handelt sich um Beamte aus dem sogenannten „Stellenpool", die überhaupt nicht wissen, worum es geht. Berichte werden ebenfalls nicht in allen Fällen angefertigt. Kollegen, die für andere Bezirke zuständig sind, können insofern zahlreiche Beschwerden an Jugendamtsleitungen und Jugendstadträte vorweisen. Sie wurden meist abgewiegelt.
Der Jugendrichter bearbeitet durchschnittlich etwa 300 Einzelrichterverfahren im Jahr. Bei einem Verhandlungstag in der Woche für diese Fälle bleibt nicht viel Zeit, um jeweils in die Tiefe zu gehen. Das ist oft auch gar nicht nötig, denn die meisten Täter kommen nicht wieder. Diejenigen jedoch, die bereits gefährdet sind, sich in Pauls, Johns oder Maiks Richtung zu entwickeln, gehen den Kollegen und mir im Frühstadium ihrer kriminellen Entwicklung eventuell „durch die Lappen", weil die Masse der Verfahren uns zwingt, die Erledigungsdauer im Auge zu behalten, damit insgesamt keine wochenlangen Terminrückstände entstehen. Das heißt, wir versuchen an einem Einzelrichtertag mindestens zehn Verfahren abzuarbeiten, damit die neu eingehenden Verfahren ebenfalls rasch terminiert werden können.
Die Staatsanwaltschaft klagt schwere Taten, bei denen die Verhängung von Jugendstrafe zu erwarten ist, beim Jugendschöffengericht an. Etwa achtzig Schöffensachen verhandeln die Kollegen und ich jeweils jährlich. Auch dafür steht wöchentlich ein Verhandlungstag zur Verfügung. Da geht es dann um die in diesem Buch schon erwähnten Lehmanns, Johns und Maiks. Es lässt sich denken, dass diese Verfahren erheblich mehr Zeit beanspruchen als die Einzelrichteranklagen. Mehr als zwei „Johns" am Tag sind nicht zu verhandeln. Vor allem dann nicht, wenn die Angeklagten nichts sagen, was ihr Recht ist, oder den Vorwurf bestreiten, was sie ebenfalls dürfen.
Die Geständnisbereitschaft der Angeklagten hat nach meiner Wahrnehmung in den letzten Jahren deutlich abgenommen. Die Autoknacker aus Friedrichshain und die rechten Schläger aus Pankow bekannten sich meist zu ihren Taten. Heute ist das anders. Da muss oft jeder Zeuge vernommen werden. Teilweise ist bei den Zeugen, die bei der Polizei noch angegeben haben, „alles ganz genau gesehen zu haben", in der Zwischenzeit eine Art kollektive Amnesie eingetreten. Das kann unterschiedliche Gründe haben. Manchmal ist Angst im Spiel, manchmal wollen sich die Geschädigten nicht erinnern, weil sie sich inzwischen mit den Angeklagten „irgendwie geeinigt haben". Anderen Richtern und mir fällt zudem auf, dass von allen Beteiligten immer häufiger schlicht und ergreifend das Blaue vom Himmel heruntergelogen wird. Aus diversen Hauptverhandlungen resultieren dann neue Verfahren wegen der Falschaussagen.
Die Verteidigung der Angeklagten wird zudem von manchen Strafverteidigern auf konfliktträchtige Art geführt. Beim Landgericht ist diese Entwicklung noch deutlich häufiger zu beobachten als beim Amtsgericht. Dort können schon einige Verhandlungstage vergehen, bis es überhaupt zur Verlesung der Anklage kommt, weil die Verteidiger z. B. bezweifeln, dass das Gericht richtig besetzt ist. Aber auch das Jugendschöffengericht hat über viele mehr oder weniger sinnvolle Einwände, Gegenvorstellungen und Beweisanträge zu entscheiden. Das zieht vor allem dann eine deutliche Verfahrensverzögerung nach sich, wenn die Verteidiger unvorhergesehen in der Sitzung seitenlange, vorbereitete Anträge vortragen, auf die man unmittelbar gar nicht reagieren kann. Weshalb können die gewünschten Aufklärungen nicht vor den Terminen angekündigt werden?
Teilweise muss das Gericht auch wegen der Art der Befragung der Zeugen einschreiten, was meine Kollegen und mich dann sofort in die Gefahr bringt, wegen Befangenheit abgelehnt zu werden. Diese Anträge sind zwar fast immer unbegründet, verlängern den Prozess aber zusätzlich, weil dann andere Richter darüber befinden müssen, ob der Richter unvoreingenommen ist oder nicht. Außerdem tauchen zunehmend nach mehreren Verhandlungstagen wie aus dem Nichts weitere Personen auf, die zuvor keine Rolle gespielt haben, aber bekunden sollen, dass sich alles ganz anders zugetragen hat. Während des zähen Ringens um die Aufklärung des Tatgeschehens lümmeln sich manche Angeklagte auf den Stühlen herum und langweilen sich. Die Opfer werden dagegen in die Mangel genommen und sollen z. B. bei fünf der Körperverletzung angeklagten Jugendlichen für jeden Einzelnen angeben, ob mit dem rechten oder linken Fuß zugetreten wurde. Das alles ist, wie gesagt, von der Strafprozessordnung gedeckt. Die Verteidiger dürfen so agieren und es gibt durchaus Fälle, in denen ihre Anträge zu einer milderen Strafe führen. Es sollen auch diejenigen Anwälte nicht unerwähnt bleiben, die sich eher kooperativ verhalten, mit dem Gericht und der Staatsanwaltschaft in sinnvolle Vorgespräche eintreten, ohne dabei die Interessen des Mandanten aus dem Auge zu verlieren. Dennoch: Das Klima ist insgesamt rauer geworden.
Vielleicht hat aber die Unerbittlichkeit, mit der heute teilweise gestritten wird, auch ein wenig damit zu tun, dass mehr als 14.000 Rechtsanwälte in Berlin zugelassen sind. Der Markt ist hart umkämpft. Es ist schwierig geworden, sich zu etablieren. Als ich 1990 in den Justizdienst eintrat, gab es 3000 Anwälte, diejenigen aus dem ehemaligen Ostteil der Stadt nicht mitgezählt.
Insgesamt zeigt sich, dass der Umfang, den manche Verfahren inzwischen angenommen haben, teilweise in keinem Verhältnis zu den uns zur Verfügung stehenden Mitteln und zeitlichen Ressourcen steht.
Unter anderem aufgrund dessen hat der Gesetzgeber eine Vorschrift in die Strafprozessordnung eingefügt, deren Anwendung ich im Jugendstrafverfahren für problematisch halte: die „Verständigung zwischen Gericht und Verfahrensbeteiligten" (§ 257 c). Das Jugendschöffengericht verhandelt, wie bereits angesprochen, jährlich um die achtzig Verfahren. Beim Landgericht sind es zwar weniger, dafür sind sie inhaltlich noch schwieriger. Wenn einige Verfahren „Intensivtäter", Totschlagsdelikte innerhalb rivalisierender Gruppen oder sogenannte politisch motivierte Taten betreffen, kristallisiert sich rasch heraus, dass ein Großverfahren mit einer gigantischen Beweisaufnahme bevorsteht. Wenn der Angeklagte auf Anraten seines Verteidigers nichts sagt oder die Taten bestreitet und etliche Zeugen aufbietet, die zu seinen Gunsten aussagen sollen, kann sich eine Hauptverhandlung über Wochen oder Monate hinziehen. Dabei gilt bis zuletzt die „Unschuldsvermutung": Solange nicht die Schuld bezüglich jeder einzelnen Tat festgestellt ist, gilt der Angeklagte vor dem Gesetz als unschuldig.
Der prozessuale „Deal" sieht nun vor, dass sich das Gericht, die Staatsanwaltschaft und die Verteidiger vor Prozessbeginn oder in der laufenden Hauptverhandlung auf eine Strafe, die im Mindest-und Höchstmaß jeweils begrenzt ist, verständigen, falls ein Geständnis oder ein Teilgeständnis abgelegt wird. Das verkürzt das Verfahren natürlich. Diese Vorgehensweise stellt meiner Ansicht nach aber eine Art Notstandshandlung dar, um überhaupt in vertretbarer Zeit zu einem Abschluss zu kommen. Die Wirkung auf manche Angeklagte halte ich jedoch für fatal. Sie wissen, was sie getan haben. Sie sagen kein Wort dazu, sondern lassen häufig durch ihren Verteidiger eine pauschale Erklärung verlesen, in der die ihnen zur Last gelegten Taten ganz oder teilweise eingeräumt werden. Das ist bequem und zudem bekommt man auch noch „Rabatt". Ich finde es jedoch auch wichtig, in der Hauptverhandlung einen eigenen Eindruck vom Verhalten des Angeklagten zu erhalten. Bereut er die Taten? Zeigt er Emotionen? Hat er Empathie für die Opfer? Diese „Strafzumessungserwägungen" stehen dem Gericht bei derartigen Verfahrensabsprachen nicht mehr zur Verfügung. Außerdem soll die Strafe oder jede andere Rechtsfolge am Erziehungsbedürfnis der Angeklagten ausgerichtet werden. Gerät dieses nicht aus dem Blickfeld, wenn ein Ergebnis abgestimmt wird, mit dem „alle leben können"?
Die Geschädigten fühlen sich dagegen, so sie denn vernommen werden, durch die Vernehmungen in der Hauptverhandlung oft erneut zum Opfer gemacht. Ich bin in den letzten Jahren mehrfach angerufen worden, weil die Zeugen das Bedürfnis hatten, ihr Unverständnis über den Verlauf der Sitzung zum Ausdruck zu bringen. Außerdem kündigten sie an, nie wieder eine Straftat anzuzeigen, um nicht noch einmal aussagen zu müssen. Inzwischen habe ich sogar Schwierigkeiten, manche Zeugen überhaupt zu motivieren, bei Gericht zu erscheinen. Die Angst sitzt ihnen bereits im Vorfeld der Verhandlung im Nacken. Sie werden nach ihrem Bekunden nicht selten aus dem Umfeld der Angeklagten bedroht.
Ein weiterer erheblicher Grund der langen Verfahrensdauer liegt in den zahlreichen psychologischen und psychiatrischen Begutachtungen der Angeklagten bezüglich ihrer Schuldfähigkeit. Gerade im Bereich der Gewaltdelikte werden diese Gutachten häufig durchgeführt, weil kein Verfahrensbeteiligter in der Lage ist, die Motivation der Angeklagten aus eigener Sachkunde heraus zu erfassen. Für die Erstellung eines Sachverständigengutachtens können weitere zwei bis drei Monate ins Land gehen.
Ich selbst glaube nicht, dass die Probleme mit den umfangreichen Verfahren ausschließlich durch mehr Richterstellen oder Staatsanwälte in der Justiz zu lösen sind, weshalb ich an dieser Stelle auch nicht jammern und klagen werde. Im Bundesdurchschnitt ist die Berliner Justiz personell rein rechnerisch nicht schlecht ausgestattet, obwohl vön den der Staatsanwaltschaft Berlin zustehenden 326 Staatsanwälten momentan nur 278 tatsächlich zur Verfügung stehen. Leider wird bei der Berechnung der „Richterpensen" und der Arbeitsbelastung der Staatsanwaltschaft der konkrete Umfang einzelner Verfahren nur unzureichend berücksichtigt. Es ist ein Unterschied, ob komplizierte Betrugstaten mit Kettenüberweisungen ins Ausland aufzuklären sind, ob man fünf Angeklagte oder nur zwei vor sich hat, ob alles bestritten wird und viele Entscheidungen angefochten werden. Hier wird nicht hinlänglich differenziert. Wenn ich mich mit Kollegen aus den Flächenstaaten unterhalte, sind diese jedenfalls irritiert zu hören, welche Taten die Richter und Staatsanwälte in Berlin zu bearbeiten haben.
Wir Jugendrichter liegen deshalb in Berlin mit einer durchschnittlichen Verfahrensdauer von vier Monaten vom Eingang der Akte bis zu ihrem gerichtlichen Abschluss im Bundesdurchschnitt nicht im vorderen Feld. Ähnlich verhält es sich mit der Bearbeitungsdauer der Ermittlungsverfahren bei der hiesigen Staatsanwaltschaft.
Gerade in den Einzelrichterverfahren können wir uns aber verbessern, wenn wir die uns zur Verfügung stehenden gesetzlichen Möglichkeiten klüger nutzen. Damit haben wir begonnen, sind aber noch lange nicht am Ziel. Mit einem Baustein der Verfahrensbeschleunigung im Jugendverfahren beschäftige ich mich später im Zusammenhang mit dem „Neuköllner Modell".